U. Pfister: Konfessionskirchen, Glaubenspraxis, Konflikt in Graubünden

Titel
Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert.


Autor(en)
Pfister, Ulrich
Reihe
Religion und Politik 1
Erschienen
Würzburg 2012: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Adrian Collenberg, Historisches Seminar der Univ.

Der Zürcher Professor, der in Münster lehrt, hat die Bündner Kirchengeschichtsschreibung mittels seines Beitrags im Handbuch Bündner Geschichte vor über zehn Jahren gewissermassen kanonisiert. Dabei hat sich die Verwendung des Paradigmas der Konfessionalisierung, das a priori die Gemeinsamkeiten verschiedener Religionsgruppen untersucht, für die Bündner Historiographie als sehr fruchtbar erwiesen. Nun legt er eine Gesamtdarstellung nach:

In der theoretischen Einleitung streicht er die Sonderrolle Graubündens heraus, das sich als gemischtkonfessionelles, dezentralistisch strukturiertes Territorium als Fallbeispiel eignet. Dies führte zu einer Kommunalisierung des Kirchenwesens mit einer «ausgesprochen komplexen kirchlichen Geographie» (S. 54), welcher sich der Autor im Kapitel 2 widmet. Nach diesem eher schwerfälligen Einstieg folgt die Beschreibung der evangelischen Bewegung mit den eminenten, gegen das Hochstift gerichteten Ilanzer Artikeln von 1524/26. Hierbei zeigt er prägnant auf, wie auf die Glaubensspaltung – ausser bei der Reformation in der Stadt Chur – eine vorkonfessionelle Phase folgte, die erst durch festgeschriebene Glaubensbekenntnisse und Klerusreformen zu einer abschliessenden Konfessionalisierung führte.

Die Parallelen mit der katholischen Reform oder Gegenreformation im Bistum Chur, das in der Frühen Neuzeit Vorarlberg und Vinschgau mit einschloss, liegen auf der Hand (Kapitel 4). Nach einer indifferenten Haltung der Bischöfe im 16. Jahrhundert wurden die tridentinischen Reformen von aussen durch nuntiatorische Visitationen gesteuert. In deren Folge setzten sich sowohl bischöfliche Priesterweihen als auch Klosterreformen (v. a. Disentis) durch. Die Konfessionalisierung als Glaubensfindungs- und Institutionalisierungsprozess war im frühen 17. Jahrhundert abgeschlossen. Kampfzonen blieben insbesondere im Veltlin (zum Bistum Como gehörig) und in den habsburgischen Herrschaftsgebieten (Prättigau, Unterengadin) übrig.

Kapitel 5 untersucht die Ansätze zur Professionalisierung des geistlichen Amts. Demgemäss waren die katholischen Pfarrer (materiell) unabhängiger als ihre protestantischen Kollegen. Ihrem Mangel wurde durch die Berufung von Kapuzinern (vorab) aus Brescia begegnet. Trotz fehlender Hochschulstätte in den Drei Bünden herrschte ein hoher Ausbildungsstand vor, der erst im 18. Jahrhundert nachliess.

Im Kapitel Glaubenspraxis (6) wird erstens die evangelische Religionskultur betrachtet und die unvollständig gebliebene Einsetzung von Kirchenzucht-Organen erläutert. Demgegenüber wird zweitens die katholische Barockfrömmigkeit anhand des Bestehens von Bruderschaften oder Prozessionen beobachtet. Wobei man über den Sinn der durchgeführten Faktorenanalyse der Ästhetik der Kirchenausstattung bei einer Stichprobe von n = 29 geteilter Meinung sein kann (S. 294f.). Danach konzentriert sich ein dritter Abschnitt auf die volkssprachliche Schriftkultur und auf das Schulwesen. Viertens folgt – überraschenderweise – ein Abschnitt über die Hexenprozesse. Diese werden sozusagen als Kehrseite des sittsamen Weltbildes der Gläubigen interpretiert. Ihr häufiges Auftreten sowohl in katholischen als auch protestantischen Gebieten hing oftmals mit fehlender Kohäsion der Dorfgesellschaften zusammen.

Kapitel 7 widmet sich – wie im Buchtitel hervorgehoben – den konfessionellen Konflikten. Dadurch vermeidet der Autor es geschickt, in eine allzu harmonische Konfessionalisierungsgeschichte zu verfallen. Zunächst werden die lokalen Konfliktherde (Untervaz, Bivio, Poschiavo, Sagogn, Tomils/Tumegl) analysiert und dann mit dem ideologischen Hauptkonflikt, nämlich der Behandlung der evangelischen Religion in den südlichen Untertanenländern, in Verbindung gesetzt. Als Muster zeigt sich, dass viele lokale Konflikte auf die höhere Ebene der Bünde transportiert und dort einfach ‹ausgesessen› wurden. Für das Abebben der Konfessionskonflikte nach 1720 wird die vorhandene Sekundärliteratur referiert, bevor ein Ausblick (Kapitel 8) sich mit neuen pietistischen Glaubensformen befasst. Der postulierte Endpunkt der konfessionellen Ära darf jedoch angesichts der bis 1810/11 anhaltenden Kalender-Streitigkeiten in Frage gestellt werden.

Im Schlusskapitel hebt der Autor das Bündner Beispiel als Konfessionalisierung «ohne Staat» hervor (S. 458). Der vorherrschende Kommunalismus führte zu einer endogenen Konfessionalisierung mit hohem Konfliktpotential, aber auch begrenztem Einfluss auf die dörflichen Nachbarschaftsverhältnisse. Im Anhang ist die Entwicklung von insgesamt 204 Kirchgemeinden in den Drei Bünden schematisch aufgelistet, dazu werden zwei reformierte Quellenstücke von 1628 und 1680 abgedruckt. An das Quellen- und Literaturverzeichnis schliesst sich ein Orts-, Personen- und Sachregister.

Anhand fundierter Quellenkenntnisse zeigt Ulrich Pfister die Parallelen der beiden Konfessionskirchen in Graubünden auf, wobei die angestrebte Koppelung von «starker» (Politik) und «schwacher» (Frömmigkeitskultur) Konfessionalisierung aufgrund der thematischen Gliederung nicht immer gelingt. Für die Tauglichkeit des allgemeinen Forschungsparadigmas ist dies nicht weiter störend, insbesondere dank des klugen Einbaus der religiösen Konflikte.

Teilweise unpassend hat der Rezensent die Sammelzitierweise empfunden, wodurch die Belege nicht immer bzw. sogleich nachvollziehbar sind. EinheimischeHistoriker oder -innen hätten dem engen Konnex zwischen Konfessionalisierung und Ausbildung rätoromanischer Idiome gewiss mehr Bedeutung geschenkt. Zweifellos aber öffnet das Werk neue Perspektiven für kirchenhistorische Regionalstudien wie auch für politgeschichtliche Darstellungen, bei denen man ohne (saubere) Konfessionalisierungs-Ansätze nicht auskommen kann. Es ist allerdings zu befürchten, dass angesichts des hohen Verkaufspreises des Buches (105 Fr. bzw. 78 Euro) der Forschungsgewinn ein beschränkter sein wird.

Zitierweise:
Adrian Collenberg: Ulrich Pfister: Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert. Würzburg, Ergon-Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 291-293.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 291-293.

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